Zeugung

Ein Sesamkorn, das alles veränderte.

Hallo liebe Wolke,
magst du Menschen, die lächeln?
Gestern, da habe ich meinen Arbeitsvertrag unterschrieben und bin ganz beseelt und glücklich nach Hause gefahren, drehte die Musik im Auto laut auf, weil ich das ganz gern mache, wenn ich mal nicht das „Ei-Ei-Ei-Eichhörnchenlied“, sondern was für die Großen hören darf. Vor mir tauchte irgendwann ein Müllauto auf, und ich konnte nicht überholen, ein Müllmann stand hinten auf einem dieser Trittbretter und sah aus wie Wolverine. Gut, es war eine Light-Version von Hugh Jackman, die hochgegelten Haare etwas schütter, der Bart ein bisschen zauselig, aber er lächelte mich an. Und es war ein nettes Lächeln, eins, das sagt: Du gefällst mir wie du da gerade in deinem Auto sitzt und laute Musik hörst. Und ich lächelte zurück. Dann bog das Müllauto um die nächste Ecke, der Müllmann winkte mir zu, ich winkte zurück, Wolverine verschwand und ich fuhr lächelnd die letzten Meter nach Hause. Es regnete in Strömen, heute auch noch, ich weiß nicht, aber irgendwie ist der Sommer auch nicht mehr das, was er mal war. Ungefähr so wie mein Leben. Diesen Juli jährt sich der Tag der Zeugung meines kleinen Lebens zum fünften Mal.

Eine Ahnung

Vielleicht war es heute, vielleicht gestern oder vielleicht auch erst überübermorgen, aber an einem dieser letzten Tage im Juli entstand mein kleines Leben. Merkwürdig ist das, wenn ich darüber nachdenke, und es kommt mir manchmal ganz nah und dann wieder ganz weit weg in der Vergangenheit vor. Der Sommer vor fünf Jahren, der war heiß, da hat’s nicht so viel geregnet wie jetzt, und im Sommer vor fünf Jahren, da wurde ich erwachsen.
Ich ahnte schnell, dass ich schwanger war, wahrscheinlich hat man diese Ahnung einfach so, obwohl doch alles dagegen hätte sprechen müssen. Bestimmt haben das die Natur und die Hormone so eingerichtet, weil beide ja ziemlich einflussreich sind, ich merkte also relativ bald nach den letzten Julitagen, als ich wieder allein in meiner kleinen Wohnung saß, dass irgendetwas anders war. Und so war es ja dann auch – und sollte es bleiben bis zum heutigen Tag.

Sesamkorn

Seltsam, dass ein Kind, und selbst wenn es erst so groß wie ein Sesamkorn ist, alles verändert. Seltsam war auch, dass ich plötzlich Entscheidungen treffen konnte, mit denen ich mich anderthalb Jahre herumgequält hatte, die ich nie treffen wollte, um nicht allein zu sein. Seltsam war außerdem, dass ich mit einem Mal wusste, was funktionieren würde und was nicht; mir öffnete das Sesamkorn in meinem Bauch die Augen, denn was anderthalb Jahre lang nicht funktioniert hatte, würde auch ein Sesamkorn nicht ändern.

Erkenntnis

Wenn aus der Ahnung die Erkenntnis wird, ungeplant schwanger zu sein, dann beginnt sich im Kopf einiges zu drehen, als ob der Wind plötzlich orkanstark geworden wäre und es im Sommer nicht aufhören würde zu regnen. Und wenn man dann mit jemandem eine Beziehung führt, die fast ausschließlich auf dem Papier, im Smartphone, stattfindet, dann wird das Drehen nicht unbedingt weniger. Wenn man denjenigen nicht an der Hand halten kann, sondern derjenige Dinge über den neuen Zustand, mit dem man sich über Nacht plötzlich stark angefreundet hat und man denkt, das ist ein Wunder, das mir ungefragt geschenkt wurde, sagt, die nicht in das eigene Herz passen, dann beginnt sich die Welt wie eine Zentrifuge zu drehen. Und wenn man fertig ist, mit dem Karussellfahren, dann haben sich die Dinge getrennt und man kann sie sich in Ruhe und klar beschauen.

Funktionieren…

Irgendwann in den Wochen nach dem Juli vor fünf Jahren wurde ich erwachsen und wusste, es würde nicht funktionieren. Als Familie. Wer mich kennt, der weiß, dass ich im Leben viele Zugeständnisse gemacht habe. Ich habe Affären verziehen, ich habe das gute Herz erkannt, das sich anderthalb Jahre fast immer versteckt hielt, ich habe mich auf Diskussionen eingelassen bis mein kleines Leben fast sein Leben in der fünften oder sechsten Schwangerschaftswoche für meine Nerven hergegeben hätte. Und als ich nach einem Streit, nach Worten und Gesten, die keine Rücksicht auf eine Schwangerschaft nahmen, wimmernd und blutend auf meinem Sofa lag und ich betete, dass mein kleines Leben bei mir bleiben würde, da wusste ich, es würde nicht funktionieren.

Aufwachen

Ich habe sehr geliebt, ja, das habe ich wirklich. Aber plötzlich war aus mir jemand geworden, der aufgewacht war. Ich wollte nicht alleine sein, nein, das wollte ich wirklich nicht. Welche Frau möchte schon schwanger und allein sein, das alles mit sich selbst ausmachen, das alles allein durchmachen und die wunderschönen Momente mit niemandem teilen? Wer will das schon?
Es können aber Dinge im Leben passieren, die veranlassen einen Menschen, eine Frau, eine werdende Mutter, Konsequenzen zu ziehen. Ich habe es mir nicht einfach gemacht, ich habe keine kopflosen und egoistischen Entscheidungen getroffen, weil eine Schwangere unzurechnungsfähig ist.

Schuld

Nein, ich rede nicht schlecht, liebe Wolke, nein, jeder ist so wie er ist. Ich kenne das gute Herz, das so viele Kilometer von meinem entfernt schlägt. Nur deshalb habe ich anderthalb Jahre alles dafür getan, es für mich zu gewinnen. Manche Wege passen einfach nicht zusammen.
Irgendwann wird die Schuld auf mich geladen werden, ich hab’s mir doch selbst so ausgesucht, ich verwehrte meiner Tochter eine Familie. Ja, dann liegt diese Schuld eben auf meinen Schultern, ich trag sie schon, keine Sorge. Ich kann das. Denn ich bin stärker, viel stärker, seit diesem Juli vor fünf Jahren.

Müllmann

Gestern als mich der Müllmann so nett angelächelt hat, hörte ich „The Tea Party“:
       I’m walking wounded
       All alone
Ja, so ist das.
Aber nur weil man verwundet ist, heißt das nicht, dass man aufhören muss zu kämpfen. Wolverine weiß wahrscheinlich, wovon ich spreche. Superhelden machen das nämlich ähnlich, wobei ich weit, sehr sehr weit, davon entfernt bin, einer zu sein. Und nur weil man keinen gemeinsamen Weg gehen kann, heißt das noch lange nicht, keine guten Eltern sein zu können.
Ich habe gelernt, die Vergangenheit das sein zu lassen, was sie ist: Vergangenheit. Um weitergehen zu können. Die Vergangenheit bedingte die Entscheidungen, die ich traf und die Auswirkungen im Heute haben. Das ist ja immer so.

Mal sehen, liebe Wolke, was ich im Sommer in fünf Jahren so machen werde. Spannend ist das Leben. Finde ich. Und es darf ruhig mal wieder aufhören zu regnen.

Vergiss den Schirm heute nicht, meine Wolke!


 

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